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Von Bratislava in die weite Welt und zurück

 

Die damals 18jährige lernte dann in Basel deutsch, begriff jedoch eines sehr schnell: "Es gibt Länder, wo man sich durch Schlagfertigkeit und Sprachfarbe die Gunst des Gastlandes sichert, in der Deutschschweiz aber sind die Fremden eher willkommen, wenn ihre Sprache farblos und gebrochen ist. Ein allzu glattes Hochdeutsch wird als Überlegenheitsgebärde dechiffriert." Heute ist Irena Brežná eine der bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer zweiten Heimat. Der hier vorliegende Band "Wie ich auf die Welt kam" versammelt nun literarische Reportagen, autobiographisch grundiert und geschrieben in einem wunderbaren, poetisch-genauen Deutsch, das weder "allzu glatt" noch "farblos" ist. Außer der Stilistin ist hier vor allem eine genaue Beobachterin und empathische Zeitzeugin zu entdecken.

Irena Brežná ist die stille, doch unverzichtbare literarische Chronistin eines menschenrechts-orientierten Europa, das der Schäbigkeit und der historischen Amnesie zu widerstehen versucht.

 

Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur

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Weitere Rezensionen

Die arabische Übersetzung "Wie ich auf die Welt kam" ist bei Al-Turjman For Translation &Publishing in Kairo, 2020 erschienen:

Immer wieder aufs neue: Empört Euch! 

 

Seit 50 Jahren lebt die Slowakin Irena Brežná in der Schweiz. Jetzt legt die Autorin, Kriegsreporterin und Aktivistin ein Buch mit Essays und Reportagen vor, die sich in der Summe wie eine Autobiografie lesen. 

 

Die Skulptur Helvetia zeigt eine Frau, die ihr Reisegepäck abgelegt hat, auf einem Brückenpfeiler der Mittleren Rheinbrücke sitzt und über den Fluss blickt. Dazu steht auf einer Tafel: «Eines Tages verlässt Helvetia ein Zweifrankenstück, mischt sich unters Volk und unternimmt eine längere Reise. Unterwegs kommt sie auch nach Basel.» Von Bratislava nach Basel gekommen ist auch Irena Brežná 1968 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, als 18-Jährige mit ihren Eltern. An der Grenze stand über dem provisorischen Lager «Willkommen Helden». 

Die Kleinfamilie zog dann weiterwestwärts. Abends erreichte sie Basel. «Wir emigrieren keinen Meter weiter», sagte die Mutter. «Seitdem lebe ich hier.» Und so beginnt für die junge Frau eine konfliktreiche Emigrantenexistenz: In ihrer alten Heimat ist sie als «Volksverräterin» für die Flucht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, in der Schweiz muss sie sich im linken universitären Milieu sagen lassen, sie hätte eigentlich Glück gehabt, sei sie doch in ihrer alten sozialistischen Heimat unter progressiven Kräften aufgewachsen. 

Irena Brežná hat als Dolmetscherin, Menschenrechtsaktivistin für Amnesty International, Journalistin und Kriegsreporterin gearbeitet. Für sie war immer klar, dass es sinnlos wäre, in einer Demokratie zu leben und dabei die «Verfolgten hinter dem Eisernen Vorhang» zu vergessen. Für eine Reportage aus Tschetschenien wurde sie 2002 mit dem renommierten Theodor Wolff-Preis ausgezeichnet. Bei der Preisverleihung im Schloss Bellevue verzichtete sie auf Smalltalk und fragte Bundespräsident Johannes Rau unverblümt, ob der denn tatsächlich glaube, dass Putin einen Friedensvertrag mit dem tschetschenischen Widerstand abschliessen wolle. Diese Episode wirft ein bezeichnendes Licht auf diese Autorin, die stets couragiert auftritt und nicht aufhört, sich zu empören über unhaltbare Zustände, vergessene Kriege und ihr (Heimat-) Land, dass sich dagegen sträubt, multikulturelle Realitäten anzuerkennen. 

2012 erhielt sie einen Schweizer Literaturpreis für ihr Buch «Die undankbare Fremde». Darin hatte sie ihren Weg in der neuen Heimat nachgezeichnet – in einer Heimat, in der sie sich ein Recht auf Fremdheit herausnahm und sich im mündlichen Umgang gegen die Mundart und für die Hochsprache entschied: «Ich kann nicht in einen intimen Dialekt einwandern wie in ein fremdes Schlafzimmer. Im Wohnzimmer der Hochsprache ist es geräumiger.» 

Das aktuelle Buch mit Essays und Reportagen versammelt nun Texte, die sich in der Summe zu einer facettenreichen Autobiografie fügen. Abgedruckt sind auch die eindrücklichen Reportagen aus Tschetschenien und ein Meisterstück von «eingebettetem» Journalismus, in dem sie einen russischen Mafioso begleitet und in die Parallelwelt der Kriminellen mit ihrem Ehrenkodex eintaucht. 

Nicht zuletzt überzeugt Brežná mit klugen Reflexionen zur Schweiz als «Einwanderungsgesellschaft». In einem neuen «Zimmerwaldmanifest» entwirft sie einen Gesellschaftsvertrag für eine neue Schweiz und plädiert für eine ebenso schmerzvolle wie befreiende Annäherung: «Wir erzählen uns gegenseitig Geschichten von beiden Ufern, schöne, schreckliche, witzige. Der Fluss wäre derselbe für alle.» 

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Alexander Sury, Der Bund, Bern 

 

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Grenzen, Wunden, Wörter

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Wie sie das schaffte und wie es ihr später gelang, immer weitere Grenzen zu überschreiten, in geschundene und vergessene Gegenden (Ost)Europas zu reisen, mit DissidentInnen, Überlebenskünstlern, Kriegsopfern und Kriegsherren zu sprechen, Unrecht anzuprangern und Verfolgten eine Stimme zu geben, belegen ihre Texte, die Reportagen, Essays und Erzählungen. Sie gehören zum Ungeschöntesten und Wichtigsten, was die politische Literatur der Schweiz zu bieten hat. Ein weiteres Anschreiben gegen Ungerechtigkeit, Gewalt und Vergessen. Und immer unübersehbarer ist, wie unverstellt, engagiert, offen, sprach- bewusst und sprachmächtig Irena Brežná sich der Welt, auf die sie «kam», aussetzt und an einem einzigen, unabschliessbaren Text schreibt, wobei die Sprache sie erdet und hält – «in der Sprache zu Hause» ist sie ja. Schreiben ist ihr Zugriff und ihre Waffe, und «der poetische Akt» Ausdruck für die «Haltung zur Welt». Das spürt man; es macht ihre Texte stark und unausweichlich. 

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Verena Stössinger, ProgrammZeitung, Basel

Ihre Heimat ist die Sprache

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Bevor die Autorin am Schluss in die heutige Slowakei blickt, widmet sie sich im vorletzten Teil dem Thema «Einwanderungsgesellschaft»; ein Kondensat der Gedanken, die sich die Autorin jahrzehntelang über ihre eigene Identität und das Konjunkturwort «Heimat» gemacht hat. Ihre Heimat ist die Sprache. Auf ein geografisches Bekenntnis warten hiesige «Integrationsfanatiker» bei ihr vergebens, auch wenn Brežná vieles an der Schweiz schätzt, an Basel zum Beispiel, dass die Stadt im Dreiländereck liegt: «Kamen früher Besucher von hinter dem Eisernen Vorhang zu mir, sagte ich konspirativ: ‹Ich zeige euch etwas.› Und ich führte die Europasucher nicht in Museen, sondern über Feldwege ohne Stacheldraht.» Vielleicht sollten wir uns rasch, ehe sie museal werden, Europas Feldwege ohne Stacheldraht noch einmal anschauen – und Irena Brežná lesen. «Wie ich auf die Welt kam» zeigt, was sich aus einem Leben machen lässt, wenn Freiheit etwas gilt.

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Katja Schönherr, NZZ am Sonntag, Zürich

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«Schreibe ich, finde ich mich auf dieser Welt zurecht – indem ich sie mitgestalte»

von Natascha Fioretti in der Schweizer Literaturzeitschrift Viceversa ---> Link

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Wie ich auf die Welt kam ist Irena Brežnás Lebenserzählung durch ihre persönliche Brille und Weltansicht.«Für mich ist bis heute keine Jahreszahl so bedeutend wie 1968». Stichwort Okkupation, Prager Frühling, gescheiterte Hoffnung: Die junge Irena Brežná kämpft um ihre Identität und setzt sich mit der Erfahrung einer Exilexistenz auseinander. Wie eine Pappel versucht sie, die Wurzeln in den Boden ihrer Heimat einzuschlagen, während sie ihre Äste stark und stolz in den Himmel der Zukunft ragen lässt. Schon in ihren jungen Jahren ist sie politisch aufgeklärt und engagiert, auch eigenwillig. Sie will es genau wissen, informiert sich, wie es um ihr Land steht und möchte teilhaben an der Gestaltung der Welt. «Meine Identität ist tschechoslowakisch, ich schreibe für die tschechoslowakischen Exilmedien und tanze auf tschechoslowakischen Bällen». Nach dem Studium der Slawistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Basel mit einer Vorliebe für Martin Heidegger entwickelt sich Irena Brežná zu Journalistin und Kriegsreporterin für deutschsprachige Medien, ist zugleich aber auch Dolmetscherin, Russischlehrerin, Menschenrechtlerin, humanitäre Helferin und zu guter Letzt, seit 2003, Schriftstellerin. 

Hier konvergieren alle Steinchen zum reichen, bunten Mosaik einer eindringlichen und nüchternen Erzählung.

Die Sprache ist präzise und klar, ohne Umwege führt sie uns durch Irena Brežnás Lebensstationen. Man hat das Gefühl, die Autorin lege alles auf den Tisch: Erinnerungen, Ansichten, Erfahrungen, Gefühle, Misserfolge. Sie sortiert langsam aus, gibt ihnen Form und Substanz, lässt sie gedeihen und ordnet sie zeitlich ein. Das Buch beginnt mit dem Prager Frühling und endet voller Hoffnung und Sehnsucht mit dem Slowakischen Frühling und der heutigen Generation, welche die Autorin an ihre Zeiten zurückerinnert: «Wir sind die, auf die wir gewartet haben». Als 1989 die Samtene Revolution begann, packte sie ihre Sachen zusammen und fuhr in die Revolution, in einem dunkelgrünen Mantel im Stil der russischen Revolutionäre.

Sie kämpft wie eine Löwin um ihre Ansichten und sie bekennt, dass ihre Existenz als Migrantin «ein nie endender Prozess mit unerwarteten Phasen ist. Jeder und jede verläuft sie verschieden lang und intensiv, auch wenn jemand eine neue Identität zu haben glaubt, kann diese wieder in sich zusammenfallen».

Ihr Zuhause #ndet sie schliesslich in sich selbst und in ihrer Sprache. Man wandert nicht nur in ein Land ein, sondern auch in eine Sprache, und für Irena Brežná war es die deutsche Sprache, und zwar die Hochsprache. In ihr fühlt sie sich zuhause wie im eigenen Wohnzimmer. Sie schleift ihr Leben lang an der Sprache «wie ein Tischler an seinen Tischverzierungen». Und sie tut dies in der deutschen Schweiz, wo die Mundart bevorzugt wird. Doch sie steht zu ihrer Vorliebe, Schrift und Wort müssen miteinander hergehen, wie sie ergänzt: «Schreibe ich, #nde ich mich auf dieser Welt zurecht – indem ich sie mitgestalte». Wo es um die Sprache geht, um ihre selbst erlernte Identität, schlägt das Herz ihrer Erzählung, in der ihre ganze Leidenschaft pulsiert.

In Wie ich auf die Welt kam erzählt Irena Brežná nicht nur aus ihrem Leben, der von zahlreichen Schwarz-Weiss-Fotos begleitete Text vermittelt auch Weltgeschichte und Ost- West-Politik der letzten fünfzig Jahre.

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Packend erzählte Politisierung 

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Für ihren autobiografischen Roman «Die undankbare Fremde» erhielt Irena Brežná 2012 den Schweizer Literaturpreis. Mit ruppigem Charme berichtete sie von ihrer Jugend als slowakische Migrantin in der Schweiz der 1970er-Jahre und der Arbeit als Dolmetscherin von Flüchtlingen. Ihr Image als Integrationserklärerin hat sie unterdessen etwas satt. Im Buch, das noch politischer ist, erzählt sie von ihrer aufmüpfigen Jugend in Bratislava, wie sie 1968 stampfend auf dem Bild des Präsidenten «als Bürgerin geboren» worden sei, berichtet von ihren Irritationen über die Naivität westlicher Linker. Brežná erzählt packend ihre Geschichte einer Politisierung. Der Hauptteil des Buches besteht aus Kriegsreportagen etwa über Tschetschenien. Reportagen, in denen sie oft die Perspektive der Frauen einnimmt. Sie begleitet Mafiosi, schildert Tote mit zerfressenem Gesicht. Irena Brežnás Held heisst Wiktor Fainberg, dem russische Sicherheitsleute die Zähne ausschlugen, als er 1968 auf dem Roten Platz gegen die Prager Okkupation durch die Rote Armee demonstrierte. 

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Hansruedi Kugler, Luzerner Zeitung, St. Galler Tagblatt und 10 andere Schweizer Medien 

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«Ich will die Dinge nicht zusammenkleben ...» 

 

Irena Brežná führte ein Leben im Schwebezustand der emigrantischen Existenz. Die Sprache ist für sie auch ein Ersatz für die Steine, die sie damals nicht nach den sowjetischen Panzern geworfen hat. 

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Von Stefan Howald in der WOZ, Zürich, 6. Dezember 2018

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Der Sammelband aus Erinnerungstexten und Reportagen von Irena Brežná dokumentiert einen beeindruckenden Lebenszusammenhang und ein kontinuierliches Engagement über fünfzig Jahre hinweg. Jederzeit von persönlichen Erfahrungen ausgehend, reflektiert und verallgemeinert die Schriftstellerin und Journalistin ihre Existenz als Emigrantin, die sich in der Sprache vielfältige Heimaten und eine hybride Identität schafft. 

Aufgewachsen im realsozialistischen Bratislava, schmeckt die Achtzehnjährige im Prager Frühling zum ersten Mal die politische Freiheit. Im August 1968 weilt sie in einem Sommerlager in Bordeaux; nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei bleibt sie mit den Eltern im Westen. Von Bekannten in Paris nach Wien weitergereicht, reist sie via Durchgangslager Buchs in Basel ein. Die ersten Jahre sind eine «finstere Zeit»; zwar fühlt sich Brežná den links engagierten StudentInnen in ihrer Aufbruchstimmung verbunden, bleibt aber angesichts der eigenen abschreckenden Erlebnisse in der realsozialistischen Tschechoslowakei auf Distanz. Dennoch, oder gerade deshalb, billigt sie der Uni zu, sie habe dort «denken gelernt, mich reibend an all den Widersprüchen jener Zeit». 

Danach arbeitet sie als Übersetzerin und Psychologin. Die Solidarnosc-Bewegung in Polen ermöglicht ihr durch die sprachliche und kulturelle Rückbindung an ihre Heimat erstmals eine öffentliche politische Solidaritätsarbeit. Im Rahmen von Amnesty International unterstützt sie Dissidente im Ostblock, beginnt zugleich, journalistisch zu arbeiten und, von der Frauenbewegung ermutigt, erste Bücher zu veröffentlichen. Aus dieser Zeit stammen einige Porträts ihrer Heldinnen und Helden, von Andrei Sinjawski über Larissa Bogoras bis zu Friedrich Dürrenmatt. 

Die Zeitenwende von 1989 erlebt Brežná vorerst als neue Hoffnung, sie organisiert Hilfsmittel für eine unabhängige Presse und Bürgerforen in Bratislava. Später lernt sie die Geheimakten des Vaters kennen, der selbst kurze Zeit als Informant tätig war, dann lange Jahre bespitzelt wurde. Anhand eines Gesprächs mit dem späteren Denunzianten des Vaters schildert sie differenziert die Mechanismen der Anbiederung an die Macht. 

 

Solidarität mit Tschetschenien 

 

Eine zentrale Erfahrung ist für Brežná der russische Einmarsch in Tschetschenien. Im März 1996 geht sie auf Reportage, die Gewalt und den Tod vor Augen. In ihrem Text bedenkt sie, was und wie 

zu berichten ist: «Ich will die Dinge nicht zusammenkleben, ihre Zerrissenheit nicht verbergen, nicht Ganzheit vortäuschen, so wie ich selbst nicht als unversehrt gelten will.» Die Unterstützung der tschetschenischen Seite gegen den russischen Angriff ist, wie sie sich eingesteht, auch eine Art Ersatzwiderstand für das, was sie im August 1968 gewollt, aber nicht gekonnt hat: Steine gegen russische Panzer werfen. Da bürdet sie der Sprache grosse Erwartungen auf: «Nun bin ich bewandert im Wortwurf, meine Steinsprache eignet sich für den Kampf.» 

Ebenso überhöht wird zunächst das «tapfere», «freiheitsliebende» tschetschenische Volk. Nach einem quasi offiziellen Staatsbesuch im kurzfristig selbstständigen Staat entwirft Brežná ein eindrückliches Porträt ihres Leibwächters, der ganz in seiner Funktion als männlicher Schutzschild aufgeht und dabei selbst versteinert. Eine allzu heroische Sicht der tschetschenischen Gesellschaft korrigiert sie später, wenn sie die patriarchalen, zunehmend islamistisch verschärften Sitten schildert, die die Frauen gefangen halten, ja ihnen die Leidensfähigkeit als falschen Heroismus aufzwingen. 

Die Sprache – besser die Sprachen: Sie erlauben Brežná ein mehrfaches Zuhause. Wenn sie die Ambivalenzen der Schweiz als Einwanderungsland schildert, geht es ihr darum, «sich nicht am Boden niederzulassen, sondern den Schwebezustand auszuhalten». Dafür gibt es, wie sie vermerkt, neue Konzepte und Begriffe: «hybride, offene, fluide Identität, transnationale Selbstverständlichkeit, Dritter Raum». Zuweilen schwankt sie, ob sie sich als Vertreterin des Multikulturalismus vereinnahmen lassen soll – das wäre seinerseits eine Festlegung und Setzung. Gegen nationalistische Tendenzen in den osteuropäischen Staaten gelte es jedoch, entschieden am europäischen Zusammenhalt festzuhalten. In schwächeren Texten zu Weissrussland oder zu Schweden fällt Brežná allerdings selbst auf eher konventionelle Zuschreibungen kultureller Mentalitäten zurück. 

 

Den Anstand einfordern 

 

Und ihr Ton scheppert ein bisschen, wenn sie gegen die Fällung zweier Pappeln in ihrer Nachbarschaft durch die «Ökoterroristen» der Basler Stadtverwaltung kämpft: «Ich habe in die Machtfratze geblickt, sah Lüge und Kleinmut.» Ungleich gewichtiger ist es, wenn sie den jüngsten Aufbruch in der Slowakei beschreibt. Da schliesst sich ein Kreis: «Die slowakischen Medienschaffenden sind sich ihrer wachsenden Verantwortung bewusst geworden.» Sprache ist jetzt wieder Hoffnung; gegen die Lügen und die Korruption ist der Anstand einzufordern, wobei der nicht – wie in der slowakischen Sprache angelegt – zum Gehorsam, sondern zum Aufstand werden soll. 

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Basler Zeitung – 11. Dezember 2018 Kultur

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Gegen das Gebot des Schweigens


«Wie ich auf die Welt kam» – Essays von Irena Brezna

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Von Thomas Waldmann

Wie schreibt man über den Krieg? Wie soll man Tod, Zerstörung in Worte fassen? Wie der Verwüstung des Lebens und der Seelen, die sich der Erfassung durch den Verstand entzieht, eine Sprache geben?

Irena Brezna hat für ihr neues Buch ihre Reportage aus dem Tschetschenien-Krieg (1996) überarbeitet; wie sie mit Frauen durch das zerstörte Dorf Sernowodsk geht, die ihre Lebensmitte verloren haben – diese Bilder lassen einen nicht los. Brezna beschreibt ihre Spurensuche, fügt Beobachtungen von Trümmern, einer Leiche, verstörten Tieren und kleinen Szenen zusammen, etwa, wie die Frauen mitten in der Verzweiflung einem Mann die Schuhe putzen.

Sie fragt, ob der Blick auf Details das richtige Stilmittel sei. Sie rettet sich nicht in Analyse oder Zahlen, sondern macht deutlich, wie hohl nüchterne Professionalität ist, die den Zerstörungsgrad in Prozent angeben will. Dass sie sich Erklärungsversuchen verweigert, aber die «Scherben» in behutsamer Sprache hervortreten lässt, macht aus der Reportage Literatur. Sie begegnet dem zerstörten Dorf stellvertretend für den Schrecken von Kriegen und menschlicher Zerstörungswut überall und in allen Zeiten.

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Panoramablick und Pappeln

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Irena Brezna, geboren in Bratislava, kam 1968 aus der Tschechoslowakei in die Schweiz und hat Basel sowie die deutsche Sprache zu ihrer Heimat gemacht. Ihre Romane sind in aller Regel autobiografisch gefärbt; in diesen Essays schreibt sie unverstellt über sich selbst. Wie sie sich der Sprachlosigkeit, die durch das Grauen im Krieg entsteht, widersetzt, wie sie das mütterliche Gebot des Schweigens aus ihrer Jugend – «Denke, was du willst, aber sag es nicht» – bricht, indem sie schreibt, sich einmischt und gerade dadurch die Fremdheit im neuen Leben abstreift.

Brezna schreibt über den von ihr bewunderten «Panoramablick» Friedrich Dürrenmatts, den sie interviewen darf, über ihren Einsatz für eine Bibliothek in Guinea und ihren Kampf um Pappeln, die hinter ihrem Haus gefällt werden sollen – einen der Bäume wird sie retten. Sie kann ihre Aufmüpfigkeit durchaus auch mal zelebrieren. Das steht neben berührender Offenheit in Texten über ihre Eltern und schwierige Bezüge zur alten Heimat.

Am Ende geht es um die aktuelle Politik in der Slowakei nach dem Doppelmord am Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten. In die Forderungen der slowakischen Jugend nach Anstand und das zunehmende Bewusstsein, was Medienfreiheit bedeuten kann, setzt sie vorsichtige Hoffnung.

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BUCH

DEN MENSCHEN ZUGEWANDT

Von Ulla Bein. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2018.

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«Das Dazugehören muss täglich neu erkämpft, bewiesen werden», sagt Irena Brezná. Die Autorin kam vor 50 Jahren nach der Besetzung Prags in die Schweiz. Ein neues Buch mit ihren Texten beweist, dass Poesie und Politik vereinbar sind.

 

Irena Brezná war gerade 18 Jahre alt, als mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei der «Prager Frühling» sein jähes Ende fand und mit ihm alle damaligen Bestrebungen, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen.

Die Autorin hielt sich gerade mit anderen Studierenden in Frankreich auf, als die Nachricht von der Besetzung ihrer Heimat durch die Radionachrichten ging. Ihr war sofort klar, dass dies auch für ihre Familie nur eines bedeuten konnte: Flucht. Knapp 12 000 Menschen kamen zwischen 1968 und 1970 aus der Tschechoslowakei in die Schweiz, auch Irena Brezná, die mit ihren Eltern in Basel Aufnahme fand.

Später studierte sie an der dortigen Universität Slawistik, Philosophie und Psychologie, arbeitete als Russischlehrerin und als Übersetzerin in der Betreuung von Geflüchteten. Ebenso begleitete sie psychologische Forschungen in Zürich und in München. Sie engagierte sich als humanitäre Helferin und auch als Länderexpertin zur Sowjetunion bei der Schweizer Sektion von Amnesty International. Ihr journalistisches Schreiben führte sie in verschiedenste Länder der Welt. Seit den frühen 1980er-Jahren hat sie ihr Wirken auch auf literarische Texte ausgeweitet. Für den Roman «Die undankbare Fremde» wurde ihr 2012 der Schweizer Literaturpreis zuerkannt, auch für ihr journalistisches Werk erhielt sie diverse Auszeichnungen.

Heimat in der Sprache

Im Band «Wie ich auf die Welt kam» finden sich Reportagen und Essays über Krieg und Vertreibung, über Verfolgung und Bespitzelung, über Fremdsein oder Einwanderungsgesellschaft. Nicht zuletzt ist ein wichtiger Aspekt auch dieses Buches die Heimat, die sie in der deutschen Sprache gefunden hat.

Die Texte, einige sind zuvor in Zeitschriften oder Zeitungen erschienen, fügen sich in dieser versammelten Form zu einer Art Autobiografie zusammen. Sie zeigen stets die engagierte Anteilnahme, mit der die Autorin den Menschen, über die sie berichtet, begegnet. Diese literarischen Reportagen nehmen uns mit nach Weissrussland oder Guinea, nach Tschetschenien oder in die Slowakei, manchmal bleiben wir aber auch ganz einfach in der Schweiz und sehen durch die Augen der Autorin, was es bedeutet, fünfzig Jahre lang Fremdsein zu erfahren.

Irena Brezná schaut genau hin und nennt die Dinge beim Namen. Dabei verleiht sie ihrer Haltung deutlichen Ausdruck: Sie steht für eine Welt, in der die Menschenrechte für alle gelten. Das ist wohltuend und wichtig, doch das ist noch nicht alles: Mit Sorgfalt und Akribie sucht und findet die Autorin eine Sprache, die nicht alltäglich ist, die bei aller Poesie engagiert ist und bei allem Engagement poetisch.  

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Rezension in Frauenstimme, Nr. 4/2018, herausgegeben von Frauen für den Frieden, Basel  

 

"Denke, was du willst, aber sag es nicht." Das mütterliche Verbot machte aus Irena Brežná eine Schreibende. 

In ihren literarischen Reportagen berichtet sie von Menschen und von Ereignissen entlang ihres Lebens; vom Prager Frühling 1968 - und wie sie als 18-jährige nach Basel kam - bis zum Slowakischen Frühling 2018. Sie schreibt in einer wunderbaren und exakten Sprache. Sie ist da zu Hause, wo sie schreiben kann. Die Texte sind ein "Aufbäumen gegen das Gebot des Schweigens und Nichthandelns".

Mit "Willkommen Helden" wurden damals die tschechoslowakischenFlüchtlinge und erhielten kollektiv Asyl, ohne grosse Umstände. Und was kam danach? Beinhaltet Integration eine Pflicht zum Glück? Irena Brežná erzählt, was es bedeutet, Emigrantin zu seine, eine professionelle Fremde, und von ihrer Vision einer Einwanderungsgesellschaft, die niemanden bevorzugt und niemanden benachteiligt; und sie schildert Begegnungen mit Frauen und Männern, Heldinnen und Helden und deren gesellschaftliche und politische Realität, sei es in Russland, der Slowakei, Ukraine oder in Tschetschenien - hinschauen, schreiben und handeln, gegen unsere Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit.

Wie kann und was darf Sprache im Krieg? Als Kriegsreporterin war die Autorin mit tschetschenischen Frauen unterwegs. "Es ist ein wichtiger Beruf. Wir müssen wissen, was in der Welt geschieht", sagt Mussa in Kasachstan zu ihr. Irena Brežnás Worte sind Beschreibung genug, und dennoch: auch hier illustrieren die Fotos - aus dem tschetschenischen "Kriegsalltag"; nicht nur, sie fügen eine weitere Ebene hinzu und haben mich sehr berührt.

Von Cornelia Lehmann

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Website der Appenzeller Buchhandlung "Bücherladen Appenzell"

 

Selten habe ich mich über eine literarische Neuentdeckung so sehr gefreut, wie über Irena Brežnás Buch «Wie ich auf die Welt kam – In der Sprache zuhause», kürzlich erschienen im Rotpunktverlag. Geboren 1950 in der Tschechoslowakei, gehörte sie zu den 13 000 Tschechoslowaken, denen der Schweizer Bundesrat 1968 Asyl gewährte. Kaum angekommen in der Schweiz, stürzte sie sich in das Erlernen der neuen Sprache und begann wenig später ihr Studium in Slawistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Basel. Ziemlich schnell musste die damals 18jährige feststellen, dass es Länder gibt, «wo man sich durch Schlagfertigkeit und Sprachfarbe die Gunst des Gastlandes sichert, in der Deutschschweiz aber sind die Fremden eher willkommen, wenn ihre Sprache farblos und gebrochen ist. Ein allzu glattes Hochdeutsch wird als Überlegenheitsgebärde dechiffriert. In Dialekt hinkende Fremde sind willkommener als die auf Hochdeutsch tänzelnden.» Irena Brežnás Fremdsprachenbegeisterung hat diese und ähnliche Entdeckungen nicht aufgehalten, sondern vielmehr angespornt: «Die sprachliche Unvollkommenheit gar als Vorteil für Neuschöpfungen zu nützen, blieb eine überwältigende Entdeckung. Als ich den Sprachwechsel vollzog, gab es keine «Migrantenliteratur» und ich kann mich nicht erinnern, von jemandem zum Schreiben in der fremden Sprache ermutigt worden zu sein.»  Und so versammelt der vorliegende Band wunderbar poetisch geschriebene literarische Reportagen aus verschiedenen Stationen in ihrem Leben. Erschütternd sind die Erzählstücke aus Krisengebieten wie Tschetschenien, in denen sie als Kriegsreporterin unterwegs war, spannend ihre genauen Beobachtungen zur politischen Lage in Weissrussland oder der Slowakei und nie, und dafür bin ich besonders dankbar, schreibt sie im Sinne einer oberflächlich «engagierten Literatur». Dafür sind ihre Reflexionen, die Auseinandersetzung mit dem Heimatsbegriff und der Fremdheitserfahrung, die in allen Reportagen anklingen zu tiefgründig, persönlich und durchdacht. Ihre Rolle als Chronistin nimmt sie ernst, denn «wenn Vergangenes und Jetziges klar beim Namen genannt wird, wird die Zukunft ein aufrichtiges Antlitz haben».

Von Anna-Lena Fässler

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Interviews zum Buch

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1. Sie sind eine Basler Schriftstellerin. Sie stehen bei der reisenden Helvetia an der Mittleren Brücke am Rhein und halten den Koffergriff. Warum?

 

Es ist ein Ort in Basel, den ich allen, die mich besuchen, zeigen will. "Helvetia auf der Reise" von der Basler Bildhauerin Bettina Eichin ist die Skulptur einer älteren Frau, die nachdenklich den Rhein abwärts blickt. Ihre Utensilien, die von Taten zeugen, hat sie abgelegt: Den Speer, das Schutzschild mit dem eingravierten Kreuz, den Umhang und ihren Koffer. Ich fühle mich ihr nah. Ich helfe Helvetia ihren schweren Koffer tragen.

 

2. Im Titel Ihres Buches steckt eine grosse Frage. Sie schreiben: " Wie ich auf die Welt kam." Was bedeutet dieses „Wie“?

 

Ich meine damit das Jahr 1968, als ich in der Tschechoslowakei den Prager Frühling erlebte, der die Lockerung der Zensur mit sich brachte. Da erwachte ich als Bürgerin und beschloss, Journalistin zu werden. Und ich kam auf die Welt, als die Panzer des Warschauer Paktes die Reformbewegung niedergewalzt haben und auf die Welt kam ich auch als Flüchtling in der Schweiz. Der Untertitel des Buches heisst "In der Sprache zu Hause", denn heimisch bin ich vor allem im Schreiben. In der fremden deutschen Sprache bin ich auferstanden.

 

3. Im Hinweis auf Ihre Lesung war es Ihnen wichtig, ganz konkret zu schreiben: „ Eine Zeitreise vom Prager Frühling 1968 bis heute – aus der Tschechoslowakei ins Schweizer Exil und weiter, ob nach Guinea, zur russischen Mafia oder in den Krieg nach Tschetschenien.“ Was bedeutet es Ihnen, so konkrete Erlebnisse und Schwieriges in Ihrem Leben zu beschreiben?

 

Das Buch habe ich so konzipiert, dass man es wie eine Autobiographie liest, und zwar in Essays und literarischen Reportagen, die um meine wichtigsten Themen und Länder kreisen. Aber es geht dabei nicht um mich, ich biete die Lupe, durch die man einen vertieften Zugang zu Mechanismen der Unterdrückung bekommt.

 

4. Es sind Ihre Leserinnen, die Sie ins Kulturhaus BeZ Biel-Benken einladen. Sie sind als Figur des Textes, nämlich als implizite Autorin, schon bekannt. Worauf freuen Sie sich als Autorin, wenn Sie Ihren Leserinnen real begegnen?

 

Ich liebe mein Publikum, diese Menschen kommen, um sich meine gestaltete Wahrnehmung der Welt anzuhören und darüber zu diskutieren. Manchmal fahre ich mit meinem Partner durch Biel-Benken, wir spazieren gerne in der Gegend. Jedes Mal schaue ich, ob die Störche auf dem Kirchturm sind. Es ist Zeit, auch den Menschen, die hier wohnen, zu begegnen.

 

Wir freuen uns sehr auf Sie.

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Erschienen in Biel-Benkener Dorf-Zytig, Dez. 2018 

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Kulturtipp, Zürich, Herbst 2018

 

Was bedeutet für Sie der Begriff Heimat?

 

Irena Brežná: "Die Heimat ist wie die Gesundheit, erst dann, wenn man sie verloren hat, lernt man sie schätzen", so definierte es im 19. Jahrhundert der polnische Dichter Adam Mickiewicz. Für mich ist Heimat ein wandelbarer Begriff. Sowohl dem Land, das ich verlassen musste, wie auch dem Gastland gegenüber habe ich ein Pflichtgefühl. Wenn ich in Mittelosteuropa bin, wo Angst vor Einwanderung herrscht, erzähle ich von der multikulturellen Schweiz, die auch dank den vielen Einwanderern prosperiert. Und wenn ich in Basel bin, schreibe ich Bücher, Essays, Reportagen über die Lage in jenem geographischen Raum. So versuche ich schreibend die beiden Welten zusammenzubringen, so wie ich sie in mir selbst zusammengefügt habe. 

 

Sie schreiben schon seit Jahrzehnten auf Deutsch. Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrer Muttersprache?

 

Ein gutes Verhältnis. Die Muttersprache pflege ich weiter. Als ich vor ein paar Jahren das Angebot von der grössten slowakischen Zeitung Sme bekam, Kolumnen zu schreiben, war das eine Herausforderung, ob ich überhaupt in der Muttersprache schreiben kann. Ich habe es mir zwar bewiesen, aber nach drei Jahren habe ich damit aufgehört. Ich musste feststellen, dass meine slowakischen Texte sprachlich nicht interessant sind. In der Muttersprache bin ich konventionell, auf Deutsch wiederum erfinderisch. Die fremde Sprache klebt nicht an der Zunge, liegt nicht dicht unter der Haut – es ist eine von kulturellen Dogmen befreite, offene Sprache.

 

Manche Schriftsteller haben Mühe mit dem Begriff «Migrationsliteratur», weil sie in ihrem Schreiben nicht nur auf ihre Biografie reduziert werden wollen und den Begriff als Einschränkung erleben. Wie stehen Sie dazu?

 

Der Begriff hat für mich eine Logik. Ich bin doch in die deutsche Sprache eingewandert, habe sie mir erarbeitet und schleife weiter hart daran. Als ich in den 80-er Jahren anfing, auf Deutsch zu schreiben, habe ich es noch als Wagnis, als Besetzen eines fremden Territoriums empfunden. Das Dogma der Muttersprache war damals sehr stark. Vor mehr als 10 Jahren nahm ich in Innsbruck an einem Treffen der sogenannten Migrantenautoren- und Autorinnen aus Deutschland, Österreich und Schweiz teil. Diese Gruppenzugehörigkeit hat mir Kraft gegeben, und wir traten nicht in einem Alternativcafé auf, sondern im Stadttheater. Mit unserem "Tabubruch" sind wir in der Mitte der Gesellschaft angekommen. 

 

Inwiefern hat Ihre Biografie Ihr Schreiben beeinflusst?

 

Einige Texte sind biografisch geprägt, aber es geht nicht um meine Befindlichkeit, sondern darum, dass ich von der gesellschaftlichen und politischen Atmosphäre als Zeitzeugin berichte. Und das Material zum Schreiben kommt bei weitem nicht nur aus meiner Biographie. Als Reporterin habe ich viele Länder bereist, mir neue, aufwühlende Themen ausgesucht. So beschreibe ich nicht nur die rollenden Panzer des Warschauer Paktes 1968 in der Tschechoslowakei, sondern auch jene russischen Panzer und Bomben in Tschetschenien, die dort eine Verwüstung hinterlassen haben. In den Kriegsreportagen bin ich lediglich ein Fernrohr oder eine Lupe, durch genaues Hinschauen auf ein konkretes historisches Ereignis will ich informieren, aber ich mache auch Literatur daraus, das Universelle. 

 

Sehen Sie in Ihrer eigenen Geschichte Parallelen zu der heutigen Flüchtlings-Situation?

 

Ich habe Empathie für heutige Flüchtlinge und sehe mich auch selbst darin. Ich dolmetsche für Flüchtlinge aus dem Russischen, meist kommen sie aus Tschetschenien. Viele meiner Landsleute, die in der Schweiz als gut integriert gelten, mögen es nicht, dass nach ihnen noch andere kommen. Diese Abwehr ist psychologisch nachvollziehbar, man will die eigene Flüchtlingsgeschichte hinter sich lassen und sich selbst zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig zählen. Für mich ist es nicht so. Wenn ich in Mittelosteuropa bin, erzähle ich, wie es mich beglückt, dass ich in der Schweiz viele Sprachen auf der Strasse höre. 

 

Werden Sie in der Schweiz nicht auch mit Klischees konfrontiert, oder spüren Sie immer diese Offenheit gegenüber anderen Kulturen?

 

Klar, Vorurteile erlebe ich hie und da – eine Haltung, als müsste man den Einwanderern pädagogische Entwicklungshilfe zukommen lassen. Als ich jung war, hiess es, ich solle strukturierter, genauer sein. Ich habe dagegen gewütet, aber dann gelernt, mir solche nützlichen Fähigkeiten anzueignen wie die Genauigkeit, die Faktentreue. Das hat meine Persönlichkeit bereichert.

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Interview im Zürcher Oberländer im November 2018 mit Mirja Keller

 

Wie haben Sie die Okkupation durch die Soldaten des Warschauer Pakts in Erinnerung? 

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Irena Brežná: Das Jahr 1968 ist eine Zäsur in meinem Leben. Es war ein Schock, weil ich im Frühling die wunderbarste Zeit erlebt habe. Ich fing an, Zeitungen zu lesen. Was für eine aufregende Lektüre ohne Zensur! Wir durften auch endlich reisen. Da tat sich für mich die Welt auf. Nach dem Abitur fuhr ich in ein Studentenlager nach Frankreich, wo mich die Nachricht von der Okkupation erreichte. Ich weinte nur noch. 

 

Nach der Niederschlagung der Reformbewegungen flohen viele in die Schweiz. 

 

Brežná: Aus Frankreich bin ich nach Wien gefahren, wo meine Mutter wartete. Wir klapperten Botschaften ab, als jemand sagte, dass die Schweiz tschechoslowakische Flüchtlinge ohne Visum aufnimmt. Mit dem Auto fuhren wir nach Buchs SG, wo wir re- gistriert wurden. Danach fuhren wir weiter westwärts, ohne Konzept, bis wir am Abend in Basel ankamen. Seitdem lebe ich da. 

 

Frau Brežná, Sie nahmen es Ihrer Mutter übel, dass Sie flüchten mussten. Wieso? 

 

Brežná: In der sozialistischen Schule wurde ich mit grossem Pathos dazu erzogen, dass man sich für die Gesellschaft einsetzen soll. Die Flucht in ein wohlhabendes Land, während bei uns die Panzer einfielen, empfand ich als feige. Ich wollte kämpfen. Aber meine Mutter musste in den 1950er Jahren ins Gefängnis. Mein Vater war Anwalt, er galt als Klassenfeind und musste im Steinbruch schuften. Die Eltern befürchteten mit Recht den Rückfall in die Diktatur. 

 

Ausgewogene Information war in der sozialistischen Schule nicht die Regel. 

 

Brežná: Mir hat meine Mutter erzählt, dass bei Katyn Tausende von polnischen Soldaten, vor allem Offiziere, nicht von Nazis erschossen worden waren, wie es die kommunistische Propaganda verlauten liess. Sie sagte mir, das seien die Sowjets gewesen. Ich habe dann im Exil erfahren, dass es wirklich die Sowjets waren. 

 

50 Jahre sind seit dem Prager Frühling vergangen. Was bleibt? 

 

Brežná: In der Slowakei fanden diesen Frühling grosse Demonstrationen statt (Anm. d. Red. Die Proteste erfolgten als Reaktion auf die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak). Die Proteste gehen weiter, sie werden von der jungen Generation organisiert. Diese beruft sich auch auf die Aufstände von 1968 und 1989, nutzen gar dieselben Slogans. Diese Kontinuität gibt Kraft. Es ist wichtig, dass die Bevölkerung ihren Unmut gegen die Korruption der Regierenden kundtut und einen politischen und gesellschaftlichen Anstand fordert. Auch in Tschechien gehen Menschen auf die Strasse. Und diesmal werden sie nicht von Panzern überrollt. 

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